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*um 520 (Thüringen) † 13.08.587 in Poitiers
Was sich so romantisch anhört, war in Wirklichkeit ein trauriges, zuletzt aber stolzes Kapitel des frühesten Mittelalters. Radegundes Leben ist nur in Grundzügen bekannt, aber das reichte dem Verfasser, dass der Name Radegunde weit oben stand auf der Liste der anfangs etwa zwei Dutzend Personen der europäischen Geschichte, die immer schon näher beleuchtet werden sollten. – Wie immer, wenn die einzigen Zeitzeugen nach heutigem Verständnis als befangen gelten müssen und ohnehin die Quellen kärglich sind, darf man vorsichtig mit dem umgehen, was schriftlich überliefert ist. In diesem Fall schreibt der eine Heilige, Venantius Fortunantus, über das Leben einer anderen Heiligen (Literatur). Gleich der erste Satz seiner Vorrede ist Programm: "Die Freigiebigkeit unseres Erlösers ist so reich, dass er mächtige Siege im weiblichen Geschlecht feiert und selbst den körperlich kraftlosen Frauen durch die Stärke eines ruhmreichen Geistes Ehre verleiht."
Wie kam eine germanische Prinzessin vor 1500 Jahren über eine Entfernung von mehr als 700 km quer durch Europa – aus dem heute deutschen Osten (Thüringen) nach Nordfrankreich weit in den Westen? Was wir Heutigen gut und gerne an einem Tag mit dem Auto zurücklegen können, bedeutete unter den damaligen Bedingungen eine strapaziöse und gefährliche Reise über etliche Tage hinweg – zumal für ein Mädchen im Feindesland.
Auf einer Reise im Februar 2009 – hier: von Tours nach Poitiers – versuchten wir, Eindrücke aus den spärlichen physischen Resten der Geschichte auf uns wirken zu lassen.
Nach der machtvollen Reichseinigung Chlodwigs folgten unruhige und nicht so glanzvolle Zeiten im Frankenland. Chlothar I. war Chlodwigs jüngster Sohn, er erhielt nach des Vaters Tod 511 Neustrien, einen relativ kleinen Reichsteil nördlich der Loire über Paris hinaus bis Reims und Soissons. Chlothar half seinen älteren Brüdern bei diversen Eroberungsfeldzügen und gelangte dabei auch nach Thüringen. 531 nahm er das Mädchen Radegunde als Kriegsbeute mit nach Neustrien.
Radegunde dürfte etwas mehr als elf Jahre alt gewesen sein, ohnehin nicht mehr Kind nach damaliger Vorstellung und doch noch nicht Frau. Ihr Geburtsjahr wird um 520 angenommen, also zur Zeit der Völkerwanderung mit ihren vielfältigen gesellschaftlichen Umbrüchen. Die Thüringer zählten zu den großen Stammesverbänden. Radegundes Vater war König Bertachar, er fiel wohl einem Bruderzwist zum Opfer. Mit ihm sollte das mächtige Königsgeschlecht in wenigen Jahren untergehen. Noch ehe die expandierenden Franken und Sachsen um 530/31 eindrangen, wurde Radegunde zur Vollwaise, ihre Mutter folgte Vater Bertachar bald ins Grab. Radegunde kam vorübergehend in die Obhut ihres Onkels, der den Thron übernahm. Die Legende will wissen, dass Radegunde eine erste Liebe zurück ließ, als sie mit ihrem kleinen Bruder ins Merowingerreich verschleppt wurde.
So kam Radegunde an Chlothars Fürstenhof in der Villa Athies, einem königlichen Wirtschaftshof bei Péronne in der Picardie. Immerhin wurde sie dort als Kind aus königlichem Geblüt behandelt und erhielt eine standesgemäße Erziehung. Nach einigen Jahren starb Chlothars Ehefrau – besser gesagt Hauptfrau, denn da gab es manches Nebeneinander. Radegunde musste (um 540) an ihre Stelle treten. Gedanken, mit dieser Ehe Ansprüche auf das Thüringerreich (oder Teile desselben) verbinden zu können, realisierten sich nicht. Übrigens war man sich verwandtschaftlich gar nicht so fern, wie oft unter gekrönten Häuptern: Chlothars Großmutter war, so liest man, Basena von Thüringen. Diese Frau von Childerich, die Chlodwig zur Welt gebracht hatte, gehörte zur Familie des Thüringerkönigs Bisin, Radegundes Großvater.
Von Radegundes Werdegang wird berichtet, dass sie sich nicht nur in den elementaren Kulturtechniken bewährte und sich für religiöse Literatur interessierte, sondern auch im Alltag eine karitative Haltung gegenüber den Schwachen ihres Umfeldes zeigte. Man mag sich heute den König als groben Klotz vorstellen, der Gefallen am Liebreiz des feinsinnigen Mädchens fand. Doch diesem gebildeten Mädchen müssen die Absichten des 20 Jahre älteren Haudegens wenig erfreulich erschienen sein. Chlothar wird nachgesagt, dass er unter anderem seine minderjährigen Neffen eigenhändig umbrachte, um seine Macht zu sichern. Und an Frauen in seinem Bett fehlte es nicht. Radegunde versuchte durch Flucht der Zwangsehe zu entkommen. Bald wieder eingefangen, musste sie sich jedoch den Hochzeitsprozeduren im Artois unterwerfen, aber die Ehe blieb kinderlos. Stattdessen gab es eine Adoption: Agnes hieß das Kind.
Eine Zeit lang schien das königliche Paar zumindest in relativem Frieden miteinander zu leben. Jedenfalls berichten Chronisten, dass Radegunde am Hof in Soissons ein betont christliches Leben führen konnte und ihre Wohltaten an Bedürftigen fortsetzte. Gleichwohl war sie nun einerseits Königin im Frankenreich, mit Privilegien ausgestattet, und zugleich Gefangene im goldenen Käfig.
Das ging so lange gut, bis es um 550 einen Aufstand im fernen Thüringen gab, der blutig niedergeschlagen wurde. Damit nicht genug, ließ Chlothar Radegundes etwa zehn Jahre jüngeren Bruder, der an ihrer Seite geblieben war, umbringen – als Akt der Vergeltung und Abschreckung. Das verkraftete die Königin nicht. Erneut suchte sie ihr Heil in der Flucht.
In Noyon begab sie sich in den Schoß der Kirche, der Bischof weihte sie zur Diakonin. Man liest, sie habe ihre königlichen Gewänder und Teile ihres Besitzes der Kirche vermacht. Der König wird vor Wut geschäumt haben, schreckte aber davor zurück, sich einen Übergriff in den kirchlichen Schutzraum zu leisten. So konnte Radegunde weiter fliehen, zunächst nach Saix, wo die Legende mit einem Wunder aufwartet, das sie vor ihren Häschern beschützt. (Le Miracle des Avoines [das Haferwunder]; das Getreide sei in jenem Frühjahr so heftig gewachsen, dass sie sich vor den Reitern des Königs verstecken konnte!) Schließlich zieht sie mit ihren Dienerinnen weiter nach Poitiers. Ihre vorherigen Bewegungen in Neustrien waren in einem relativ engen Raum verlaufen: Soissons, Noyon und Péronne liegen zumindest aus heutiger Sicht nahe beieinander. Doch mit Saix und Poitiers überschritt Radegunde weit im Süden die Loire; heute fährt man über 400 Autobahn-Kilometer von Soissons nach Poitiers.
Hatte man schon zuvor bei Hof gespottet, Chlothar habe eher eine Nonne als eine Königin zur Frau, so folgte Radegunde eben diesem Ziel nun mit aller Konsequenz: In Poitiers gründete sie in den 550er Jahren eine klösterliche Frauengemeinschaft. Der König versuchte über die mehr oder weniger diplomatische Vermittlung des Bischofs von Paris, Radegunde zur Rückkehr zu bewegen. Schließlich willigte er aber ein, den Klosterbau sogar zu unterstützen und die Anlage dauerhaft unter seinen Schutz zu stellen. Das Kloster (Sainte Croix hieß es später) galt bald als bedeutendstes Frauenkloster im Frankenreich. Ihre Adoptivtochter Agnes wurde Äbtissin. Radegunde selbst soll sich auch den niedrigsten Diensten unterzogen haben. Sie war beliebt.
Radegunde bekam Kontakt zu namhaften Persönlichkeiten wie Gregor von Tours und vor allem – in den 560er Jahren – Venantius Fortunatus, der wiederum freundschaftlich mit Gregor verbunden war. Venantius widmete – im Zeichen wachsender Freundschaft über 20 Jahre hinweg – Radegunde und ihrem Wirken manches Werk, das erhalten blieb. Wo Dichtung und Wirklichkeit ineinander übergehen, wird man heute kaum noch entscheiden können. Immerhin wirkte Radegunde, hier am Ziel ihrer Reisen, dreieinhalb Jahrzehnte lang erfolgreich im Zeichen des Kreuzes.
Die heutigen französischen Quellen legen Wert auf die Feststellung, dass ihre Sainte Radegonde sich selbst in der Nachfolge Christi sah und deshalb eine Delegation zum byzantinischen Kaiser sandte: Ein Jahr später kehrte man erfolgreich, so heißt es, mit einem Splitter vom Kreuz Christi heim. Das ergab den neuen Namen des Klosters, Heilig-Kreuz.
Wenn man die Geschichte großer Frauen in Europa schreibt, wird man um Radegunde nicht umhin kommen. Nicht, weil die Kirche sie heilig sprach: Sie setzte sich durch in einer reinen Männerwelt. Eine gebildete Frau, in die Enge getrieben, befreite sich von der Brutalität der (Männer-)Welt und setzte dieser – eigenwillig und konsequent – Askese und Wohltätigkeit entgegen. Radegunde starb als letzte Angehörige des thüringischen Königshauses.
Als Radegundis in Poitiers starb (man sagt: am Mittwoch, dem 13. August 587), wurde sie in der Marienkirche nahe ihrem Kloster beigesetzt. Die Kirche schmückte sich fortan mit dem Namen Heilige Radegunde. Von ihr blieb nichts erhalten. Die heutige Radegundis-Kirche wurde erst 1099 geweiht. Sie bietet ein schönes Beispiel der Plantagenet-Gotik. Auch die spätgotische Fassade mit modernen Skulpturen ist sehenswert. Dort findet man Sainte Radegonde (Bild s.o.) mit Krone, Zepter und Buch (Bibel?) neben anderen Würdenträgern der Frühzeit. Im Inneren sind auch romanische Bauelemente zu bewundern. In der Krypta treffen die Heiligenanbeter auf Radegundes Grab. Der Sarkophag in schlichter Umgebung hebt sich würdevoll ab vom Gewimmel der Votivtafeln davor, die in die Tausende gehen.
Radegundis ist als Namensgeberin in unzähligen Kirchen (nicht nur) Europas verewigt. In Frankreich genießt sie besonderes Ansehen, zum Beispiel bei Schulkindern, die sie in Sorge um schlechte Zeugnisse um Fürsprache anbeten. Radegundis ist auch Patronin der Töpfer und Weber.
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Literaturhinweis:
Zentrale Bedeutung besitzt der Bericht des Zeitzeugen:
Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis - Das Leben der heiligen Radegunde, Lateinisch/Deutsch (als preiswerte Reclam-Ausgabe Stuttgart 2008)
Nach Eindrücken in Frankreich im Frühjahr 2009 verfasst.