Home › 8. Jahrhundert › Alkuin
Man nennt ihn den größten Gelehrten seiner Zeit (und denkt dabei im Zweifel - nur - an das Abendland). Ein Mann, dem nicht nur entscheidende Impulse für die karolingische Renaissance zu verdanken sind, sondern der diese wesentlich geprägt hat. Dabei begann Alkuins Wirken im Frankenreich erst im fortgeschrittenen Alter von 50 Jahren.
Nahe der Stadt York um das Jahr 732 im damaligen Königreich Northumbria geboren, soll die Bestimmung seiner Eltern für diesen Knaben schon zur Taufe ein Leben in der Obhut und Erziehung des Klosters gewesen sein: der angelsächsische Name Alchwin ("Freund der Kirche") steht dafür. Alkuin oder Alcuin, bald auch dem Schulbrauch gemäß mit einem Beinamen (Albin) gerufen, hat keine leichte Jugend gehabt. Im Kloster York erwartete ihn mit dem Ende seiner Kindheit (7 Jahre) das strenge und entbehrungsreiche Leben, das allein dem Studium und dem Dienste Gottes gewidmet war. Abgeschieden vom Alltag außerhalb der Klostermauern, gelang es dem jungen Menschen offenbar, seine ganze Liebe den Büchern und Schriften seiner Zeit zu schenken. Dabei schätzte er besonders die klassische Literatur, die - da "heidnisch" - seine christliche Gesinnung wohl auch in Verlegenheiten gestürzt hat. Klug und belesen, ausgebildet in den septem artes liberales, wusste Alkuin von den Realitäten seiner Welt nur über Schriften und Gespräche mit Seinesgleichen. Als er seinen Lehrer Elbert zu einem Auftrag nach Rom begleiten durfte, bot sich eine der wenigen Gelegenheiten, unmittelbare Eindrücke von dieser Welt zu gewinnen.
Das Christentum war noch nicht weit verbreitet. Angelsachsen wurden selbst erst in der 1. Hälfte des 7.Jh. christianisiert, und große Teile des heutigen Festlandeuropas wurden im 8.Jh. namentlich von Mönchen der britischen Inseln missioniert, oft unter Einsatz ihres Lebens. Aber auch kulturell waren die westlichen Völker nach dem Untergang Roms und der Antike (in den Jahrhunderten der Völkerwanderung) gegenüber den Hochkulturen des Ostens zurückgefallen.
In dieser Zeit (anno 768) kommt mit Karl dem Großen der rechte Mann zur rechten Zeit auf den noch jungen fränkischen Thron. Karl erwirbt sich den historischen Ehrentitel "der Große" nicht nur infolge seiner unvorstellbaren Machtausdehnung (faktisch und geographisch), sondern auch als erfolgreicher Streiter für den christlichen Glauben und "moderner" Förderer von Bildung und Kultur in seinem Weltreich.
Wie unter männlichen Adligen seiner Zeit üblich, war Karl als junger Mann eher mit dem Schwert vertraut geworden als mit der Feder. Aber er gilt als intelligent, weitsichtig und lernfähig. Als Frankenkönig vergisst er über seine zahlreichen Kriege nicht, an die innere Entwicklung des Reichs zu denken und schart bald eine bedeutsame Zahl gelehrter Männer um sich. Bei einem Rombesuch 780/81 trifft Karl der Überlieferung nach in Parma jenen Mann, der zu diesem Zeitpunkt in seiner Heimat bereits einen Ruf als Vorbild und großer Gelehrter genoss. Karl kann Alkuin für seine Ideen einer epochalen Entwicklungsarbeit im Frankenreich gewinnen.
Als Alkuin 782 an des Königs Hof kommt, findet er Gelehrte aus ganz Europa vor, die sich seit fünf Jahren dort zu sammeln begannen, wird aber schnell zum Haupt dieses denkwürdigen Kreises. Karl ernennt ihn zum Leiter seiner gerade gegründeten Hofschule. Alkuin unterrichtet zunächst den König selbst, seine Gefährten und deren Söhne. Aber in dem - nach klassischem Vorbild "Akademie" genannten -- Kreis finden sich auch Karls Schwestern und Töchter. Diese Schule wird bald zur zentralen Bildungseinrichtung, wo die begabten Schüler des Reiches ihre Unterweisung erhalten. Neben der reinen Wissensvermittlung und dem besseren Verständnis der Heiligen Schrift dient sie der Pflege von Kunst und Kultur.
Alkuin verfasst eigenhändig Lehrbücher, die den Sieben Freien Künsten und der Orthographie gewidmet sind. Maßgeblich verantwortlich ist er auch für die Überarbeitung fehlerhafter Texte und ihre verbindliche Verbreitung im Reichsgebiet - in einer Gesellschaft, die weitgehend ohne Schriftlichkeit auszukommen gewohnt war, eine elementare Neuerung.
Untere Alkuins Einfluss entwickelt sich Karls Kirchenreform nach und nach zu einer Bildungsreform, deren Ergebnis wir heute die "karolingische Renaissance" nennen. Das Erbe der Antike nimmt in der europäischen Geschichte allmählich Gestalt an. Karl weist Klöster und Kirchen an, eigene Schulen zu errichten. Mönche erhalten die Abschrift klassischer Texte als Aufgabe zugewiesen, so entstehen landauf, landab Bibliotheken, die auch der weltlichen Bildung dienen. Wann immer eine Streitfrage des Wissens zu entscheiden ist, ruft man nach Alkuin, der in fast 15 Jahren dem Hof als unentbehrlicher Ratgeber dient. Aber auch für die Nachwelt schafft er mit der karolingischen Minuskel die maßgebliche Schrift des europäischen Mittelalters.
Angesichts des Zuwachses an Größe, Macht und Komplexität der politischen und gesellschaftlichen Einheit des Frankenreiches kann man heute kaum ermessen, wie wertvoll Alkuin war - als "Bildungsminister" und "Staatsrat" (wie man vielleicht später sagen würde), für den König und für die Entwicklung des Reiches. Die historische Forschung verfügt über zahlreiche Dokumente jener Zeit, die nachweislich Alkuin zuzuschreiben sind oder zumindest "seine Handschrift" tragen. Das geht über den Bildungsauftrag weit hinaus. Als christlich-politischer Berater etwa wirkt er auf eine Mäßigung der Strafmaßnahmen gegen die geschlagenen Sachsen hin. Wichtige Schriftstücke wie an den Papst stammen oft auch geistig aus seiner Feder. Nach Northumbria wird er in unruhigen Zeiten als Botschafter gesandt. Aber Alkuin ist (anno 802) auch weitsichtig genug zu erkennen, dass Karl der Große im Grunde seiner Zeit voraus ist und seine Reformpolitik nicht überall und nachhaltig wirken wird - in Ermangelung geeigneter Infrastruktur wie geeigneter "aufgeklärter Staatdiener" im Reich.
Alkuin ist bereits deutlich über 60 Jahre alt und strebt aus der Verantwortung des Hofes heraus, als Karl ihn 796 als Abt in Tours einsetzt. Dies gerät aber nicht zum "Altenteil" des gelehrten Mönchs. Vielmehr kommt er auch hier des Königs Wunsch nach, der Bildung zu dienen und baut die Klosterschule zu einer blühenden "wissenschaftlichen Hochschule" aus. Nach acht Jahren segensreicher Tätigkeit stirbt Alkuin als Bischof von Tours am 19. Mai 804.