Home › 8. Jahrhundert › Karl der Große
Europa als Idee und als politisch-soziale Wirklichkeit hat im Zweifel viele "Väter". Das kann man unterschiedlich begründen. Der Franke Karl dürfte als erster diesen Vatertitel beanspruchen. Was nach seinem Willen und unter seiner Verantwortung geschah, lässt manchen gewählten Führer im heutigen Europa blass erscheinen. Womit kann man das - zunächst in Stichworten - begründen?
- Karl vereinigt unter dem Dach seines Reiches unterschiedliche Sprachen und Ethnien des heutigen Europas.
- In diesem Vielvölkerstaat wird die Leitidee des Christentums stringent verfolgt, weithin populär und anerkannt.
- Diese Leitidee durchdringt als Leitkultur alle Gebiete des täglichen Lebens und findet in der lateinischen Sprache
(als Lingua Franca) wiederum eine alle Völker umspannende gemeinsame Klammer (wenn auch nur als Instrument der Gebildeten).
- Karl greift den Spannungsbogen klassischer Bildung der Antike auf und gibt ihn weiter, so schafft er strukturelle
Voraussetzungen für die politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Westeuropas, noch über das Mittelalter
hinaus.
- In diesem Sinne ist Karl auch ein Erneuerer und Reformator mit einer "modernen" Bildungs- und Sozialpolitik,
die Grenzen überschreitet.
Als ein Fürst im Sattel ist Karl vordergründig betrachtet der große und kraftvolle Herrscher und Eroberer. Mehr als die Hälfte seines Lebens ist er als Kämpfer mit dem Pferd unterwegs, und er reitet von Pfalz zu Pfalz, um als Regent vor Ort überall präsent zu sein. Eine ständige Residenz (Aachen) gibt es erst im Alter.
Karl (ab 768 zunächst nur König des Westreiches) schließt 771 die Familie seines verstorbenen Bruders Karlmann von der Thronfolge des Ostreiches aus und wird König aller Franken. Damit steht der Weg offen zu weiteren Eroberungen im Süden, Osten und Nordosten. Schon 773/74 setzt er die langobardische Krone auf und regiert damit über Norditalien. Er kämpft gegen die Omaijaden in Spanien, diszipliniert die Bayern, vernichtet das Avarenreich in Ungarn, unterwirft nach drei blutigen Jahrzehnten die Sachsen und sichert sein riesiges Reich mit einem Gürtel von Marken in den äußeren Grenzregionen ab.
In seiner größten Ausdehnung reicht Karls Westeuropa, dessen fränkisches Zentrum zwischen Rhein und Loire
liegt, von den Pyrenäen bis Mittelitalien und über Salzburg bis zur Elbe. Die Bretagne ist ausgenommen. Der heute deutsche
Osten jenseits der Elbe und Böhmen sind lediglich Marken.
Die Zentren der frühmittelalterlichen Welt liegen auf unserem Globus weitaus südlicher und im Osten. Von China über Indien und die arabische Welt bis Byzanz reichen die Hochkulturen und umfassen den Mittelmeerraum, nur Roms Stern war im Zuge der Völkerwanderung untergegangen. Nun bildet sich bei den Barbaren im Norden ein neues (fränkisches) Machtzentrum heraus, das aber eine symbolische Anbindung an die (römische) Antike sucht. Pippins und Karls Interessen treffen sich mit der Notlage des Papsttums, dessen Kontinuität bedroht ist. Im Bruch mit der Kirche Ostroms (Byzanz) wird der Weg frei für eine neue weltpolitische Konstellation, die eine Achse vom (italienischen) Mittelmeer in den germanischen Norden schlägt.
Das entstehende Kaiserreich der Franken stößt im Südosten an das Kaiserreich Byzanz. Die heutige Türkei, Griechenland, große Teile des Balkans gehören zu dessen Reichsgebiet. Man ist Nachbar, aber angesichts damaliger Fortbewegungsmittel weit genug voneinander entfernt, um sich aus dem Wege gehen und arrangieren zu können, wenn sich auch die Interessensspähren zumindest auf italienischem Boden aneinander reiben. Erst nach 12 Jahren Kaisertum wird Karl 812 (kaum zwei Jahre vor seinem Tod) von Michael I., dem Herrscher in Konstantinopel, als "Kaiser" und "Bruder" anerkannt; der selbst nennt sich nun "Basileus (Kaiser) der Römer". Karl wird das nicht unlieb sein, da er insgeheim ein "romfreies" Reich nördlich der Alpen mit Zentrum Aachen anstrebt. Andererseits nimmt Karl friedlichen Kontakt bis in das unvorstellbar ferne Bagdad des Großreichs der Abbasiden - das sich selbst als "Reich der Mitte" (!) versteht. Dessen Herrscher Harun al Raschid, im Konflikt mit Byzanz, findet den Westen zwar nicht übermäßig bedeutsam, hält aber zumindest dessen wohlwollende Neutralität für nützlich.
Die Macht der Langobarden in
Oberitalien (Hauptstadt Pavia) bedroht seit geraumer Zeit Rom und das Papsttum. Papst Zacharias sendet wiederholt Boten um
Hilfe in das fränkische Reich. Pippin der Jüngere, Karls Vater, verbindet Hilfezusagen mit dem Anspruch auf den
Königstitel. Zur Rechtswirksamkeit sieht man neben der germanischen Schilderhebung die christliche Salbung nach biblischem Vorbild
als geboten an. Fränkische Geistliche entsprechen dem Wunsch, und der Papst selbst salbt ein zweites Mal: Inzwischen ist es Papst
Stefan II., der aus Not den beschwerlichen Weg in die Champagne wagt, um die fränkische Hilfe sicherzustellen. Man wird
handelseinig. Der Papst salbt gleich beide Söhne (Karl und Karlmann) mit. Und Pippin gibt Stefan zu Ostern 754 ein
Schenkungsversprechen ab, wonach dem Heiligen Stuhl von den Langobarden eroberte Gebiete zugesprochen werden. Die hier
begründete Allianz zwischen (fränkischem) König und Papst wird zu einem bestimmenden Faktor der europäischen Politik.
Karl knüpft an diese Politik seines Vaters an und verstetigt sie, als 772 Papst Hadrian I. an die Funktion der fränkischen Schutzmacht erinnert. Das Ringen um Pavia zieht sich hin, bis Karl die Hauptstadt 774 in Besitz nimmt - und zugleich die Krone der Langobarden. In der Zwischenzeit der Belagerung sucht er als erster Frankenherrscher Rom auf. Er tut dies als Pilger in Respekt vor dem Heiligen Vater und schenkt der Kirche die Region Marken. Hadrian salbt bei einem weiteren Rombesuch 780/81 seine Söhne Ludwig und Pippin, die noch als Kinder Könige von Aquitanien bzw. Italien werden.
Die nachhaltige Wirkung der karolingischen Epoche auf unsere Geschichte geht zum großen Teil auf die Reformen Karls zurück. Hier sollen fünf Bereiche hervorgehoben werden:
1. Die Heeresreform zählt wohl zu den folgenreichsten Maßnahmen. Die Eroberungspolitik (verstanden als eine Politik
der Christianisierung, also Legitimität sichernd) erfordert nicht nur schlagkräftige, bewegliche Mannschaften, sondern eine
verlässliche Heeresstruktur. Neben das herkömmliche Volksaufgebot trat das Vasallentum, das zunehmend die Hauptlast
übernimmt. Karl organisiert die Verpflichtung der Freien in Abhängigkeit vom Landbesitz und verlagert die Umstellung auf den
teuren Reiterkampf. Damit werden die mittelalterliche Feudalisierung und das Berufskriegertum vorbereitet.
2. Die Gerichtsreform und die Rechtspflege stellen eine zentrale Leistung seiner Regierung dar und beanspruchen den Herrscher
mental und zeitlich in enormem Ausmaß. Der fränkische Gelehrte
Einhard, Karls persönlicher Schreiber, berichtet darüber, und zahlreiche Verfügungen des Königs zeugen davon. Die Rechtspraxis wird tatsächlich verbessert, indem an die Stelle der "rechtlichen Selbsthilfe" (Fehde) zunehmend der öffentliche Richter tritt. Königsboten werden ausgesandt, die "Rügezeugen" ernennen: Rügezeugen arbeiten unter Eid und bringen Verbrechen ihres Gebietes zur Anzeige vor den Königsrichter.
3. Als Verwaltungsreform, die zumal bei expandierendem Reichsgebiet immer wichtiger wird, kann man den Ausbau der
Hofverwaltung zur Reichsverwaltung sehen. Die Männer des Hofes (palatini) - wie Marschall, Kämmerer und Mundschenk - werden zahlreicher und versammeln jeweils um sich weitere Bedienstete, um den wachsenden Aufgaben gerecht zu werden. Sie treten damit neben die Adligen des Reiches außerhalb des Hofes und sind als Diplomaten, Feldherren und Vollstrecker königlicher Anordnungen in immer weiteren Feldern des täglichen Lebens im Reich unterwegs. Damit wächst ihr Status, eine neue Schicht bildet sich "in Augenhöhe" neben den consilarii heran, die der König traditionell aus dem Adel
des Landes beruft.
4. Der vermehrte Verwaltungsaufwand könnte nicht gelingen, wenn er nicht mit einer Verschriftlichung der Kommunikation
einherginge. Karl erlässt eine große Zahl an Kapitularien (Gesetze, Verordnungen), die von den Boten des Königs in die
Lande getragen werden. Angesichts damaliger "Infrastrukturen" eine immense Herausforderung. Die Triebfeder für die vielen
Verfügungen und sonstigen Schriftdokumente Karls liegt in seinem christlichen Glauben. Ihr Zweck ist es, in die Gesellschaft hinein zu
wirken, Missstände zu beheben und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Auch die Brauchtumspflege lässt hohes soziales Engagement
erkennen, wenn Karl dafür sorgt, dass Rechte und Sitten der Völker seines Reiches schriftlich festgehalten werden.
5. Schließlich: die Kapitularien müssen geschrieben sein - und von einer immer größeren Zahl von Adressaten
gelesen werden können. Was bislang weitgehend in den Händen der Geistlichkeit lag (ursprünglich konnten nur sie
schreiben), überträgt Karl fortan auch an weltliche Hofbeamte. Damit stellt sich eine weitere Reformaufgabe, denn Lesen
und Schreiben muss erst einmal gelehrt und gelernt werden. Die Rede ist von der Bildungsreform:
Karl selbst ist des Schreibens nicht mächtig. Aber er ist intelligent und lässt sich weiterbilden, so etwa in den Sprachen seines Reiches. Da ihm deutlich wird, dass sein christliches Sendungsbewusstsein mit dem Schwert allein keinen dauerhaften Erfolg bringt, beginnt er spätestens 777 damit, der Not leidenden Bildung in seinen Landen beizukommen. Er versammelt Gelehrte aus allen Ländern als Berater um sich und lässt ihr Wissen auch in die Botschaften einfließen, die er über das Reichsgebiet sendet. 782 nimmt dieses Bemühen konkretere Züge an, als er mit dem angelsächsischen Mönch Alkuin (den wohl Gelehrtesten seiner Zeit an den Hof holt und ihm die Leitung seiner "Akademie" überträgt. Aus dem informellen Gesprächs- und Freundeskreis der Hofgelehrten erwächst eine Hofschule als zentrale Bildungsstätte des Reiches, zu der bald begabte Schüler von überall anreisen. Eine eigene Hofbibliothek entsteht aus dem Wirken und Schreiben dieser Männer sowie aus den Abschriften bedeutender Bücher. Alkuin verfasst Lehrbücher für den Hof in den sieben freien Künsten und für die Rechtschreibung.
Karl fügt per Erlass dem Gebet eines Mönches nun diese Schreibarbeit als generelle Pflichtaufgabe hinzu und lässt damit - sieben Jahrhunderte vor Gutenberg - eine erste, bescheidene "Vervielfältigung" bedeutsamen Schrifttums in Gang kommen. So werden nach und nach im Reichsgebiet auch weitere Bibliotheken und Schulen ermöglicht. Eine weitere Anordnung des Herrschers sorgt für die Errichtung von Schulen unter der Obhut von Kirchen und Klöstern. Der "Wissenspool" am Hofe Karls hat Ursprünge in der irischen und angelsächsischen Gesellschaft, in der gotischen ebenso wie in der langobardischen. Die Männer knüpfen alle bevorzugt an die großen Werke der Antike an, deren Kenntnis im frühen Mittelalter hierzulande verloren ging. Manche wichtigen religiösen Texte liegen in fehlerhaften Fassungen vor, sie werden in der "Akademie" überarbeitet und weitergegeben - offiziell und verbindlich.
Die lateinische Sprache wird als "Elitenkultur" verbreitet und zugleich das germanische Schrifttum (und Sprache) gepflegt, beides wirkt in breitere Gesellschaftskreise hinein und schafft eine mentale Klammer für das christliche Reich. So werden kirchlich-lateinische Texte zunächst nur mit althochdeutschen Glossaren versehen, aber bald gibt es das erste Wörterbuch in der Volkssprache. Als innovative Schöpfung ragt besonders die neue Schrift heraus, welche die vorherrschenden lateinischen Großbuchstaben verdrängt, die "karolingischen Minuskel" (mehr dazu s. Alkuin). Mit seiner Bildungsreform ermöglicht Karl eine geistige Erneuerung der abendländischen Gesellschaften, die gerne als "karolingische Renaissance" bezeichnet wird. So spannt er einen weiten Bogen von der Antike herüber, der zum späten europäischen Mittelalter (der eigentlichen Renaissance) weiterführt.
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Bevorzugte Literatur zu diesem Artikel:
Josef Fleckenstein: Vater Europas? - Das Reich Karls des Großen, in: Kaisergestalten des Mittelalters (hg. v. Helmut Beumann 1985),
p. 15ff.
Johannes Schmitt: Karl der Große: Wegbereiter Europas, (imprimatur August 2001)
http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2001/imp010310.html