Home| Personenregister| Sachregister| Links| Kontakt|

Home Sachregister › Die Wikinger

Die Wikinger - auch ein Probelauf für die Neuzeit?

Die Ära der Wikinger vollendet das 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Wir wissen nicht allzu viel über die Nordmänner (geschweige denn "Nordfrauen"), aber einige Fakten wecken auch über die Zeiten hinweg großes Interesse. Es geht dabei um Entdeckungen und Erfindungen, die man eigentlich erst ein paar Jahrhunderte später vermuten möchte.

Prolog
1. Noch vor den Erfindungen der Zeitenwende - revolutionäre Technologien im Schiffsbau
2. Noch keine Hanse, aber das erste weltweite Handelsimperium
3. Noch vor der Stadtentwicklung des Hochmittelalters: die erste Stadt des Nordens
4. Noch weit vor Columbus: die Entdeckung Amerikas

Wikingerfahrten
Bildquelle

 

Prolog: Eine 2. Epoche der "Barbareninvasionen"

"Wikinger"

Als "Wikinger" bezeichnet(e) man Küstenbewohner Norwegens,Dänemarks, Schwedens und Finnlands, aber auch Slawen und Iren, die auf Beutefahrt gingen. Das Wort vikingr meint wohl "Buchtenlagerer", also Seeräuber. Und so wurden sie auch pauschal genannt und verstanden: pyratae, oder synonym einfach Nordmänner, Normannen, Dänen (Dani). Im Osten nannte man sie "Waräger" oder "Rus" (Rudermannschaft); daraus: das Land der Rus, Russland.

Anno 833 standen die Wikinger "vor unserer Haustür" (in Essen): sie eroberten Duisburg und machten sich auf den Weg die Ruhr aufwärts; ein Sperrfort konnte sie aufhalten...

Von welcher Zeit sprechen wir hier?
Wenn man die Ära der Wikinger in die uns vertrauten Geschichtsabschnitte einordnen will, kann man sie bei den Karolingern und Ottonen verorten. Für ein vom klassischen Rom geprägtes Europa drangen nach der Völkerwanderung erneut "Barbaren" in unsere Länder vor. Grob gesagt geht es um das 9. und 10.Jahrhundert. Vom Jahr 793 bis 1066 erstreckt sich die nachgewiesene Phase der "Wikingerbewegung", die auch als "Völkerwanderung zur See" bezeichnet wird:

Am 8.Juni 793 überfielen skandinavische Seeräuber das Kloster Lindisfarne auf einer Insel vor der nordostenglischen Küste. Kein Geringerer als Alkuin sorgte dafür, dass dieser Raubzug als erster seiner Art europaweit bekannt und aktenkundig wurde. Zweieinhalb Jahrhunderte später versuchte König Harald III. von Norwegen ein letztes Mal, England zu erobern – vergeblich. Aber nur ein paar Monate später triumphierte Wilhelm der Eroberer in Hastings (1066). Der Herzog der Normandie war Nachfahre dänisch-norwegischer Wikinger.

Mit dem Zerfall karolingischer Zentralmacht sah Europa sich weitgehend wehrlos den ständigen Beutezügen ausgesetzt, die von Norden, Osten und Süden, bis weit in die Kernlande hinein, die Menschen nicht zur Ruhe kommen ließen. Zu den "Barbareninvasionen" zählten die ungarischen Reiterhorden, die bis nahe Bremen und im Süden bis Orléans vordrangen. Die arabischen Seeräuber (Sarazenen) beherrschten nicht nur die Mittelmeerk üsten, sondern zogen über die Adria und die Provence bis in die Alpenregionen hinein. Skandinavier schließlich sorgten die gesamte Atlantikküste entlang für Unruhe und setzten ihre Raubfahrten an allen Mittelmeerküsten fort, während andere Beutetruppen (Waräger oder Rus genannt) über die Ostsee ins Baltikum und durch das spätere Russland zogen und schließlich Wolga und Dnjepr entlang bis ans Schwarze Meer und nach Konstantinopel kamen. (Die Eroberungs- und Siedlungsbewegungen über den Atlantik nach Westen werden weiter unten behandelt.)

Die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der skandinavischen Küstenbewohner (Bauern und Fischer) war hinter der unserer romanisch-germanischen Welt zurückgeblieben. Sie galten selbst im fränkischen Reich als Barbaren. Aber auch der eigentliche Dreh- und Angelpunkt Europas, die Mittelmeerregion, hatte nach dem Zerfall des römischen Reichs an Bedeutung verloren. Kulturell, religiös und ökonomisch expandierte dafür der Siedlungsraum zwischen den Rheinlanden und dem Pariser Becken (Rhein, Mosel, Seine, Loire) auf den Fundamenten römischer Zivilisation. Der Reichtum dieses kerneuropäischen Wirtschaftsraumes liefert – neben anderen Erklärungsversuchen, die von Klima- und Bevölkerungsproblemen ausgehen – Argumente genug für die Beutezüge der Wikinger in Westeuropa und, nach einigem Erfolg, weit über Westeuropa hinaus.

Vier bemerkenswerte Entwicklungen sollen im Folgenden herausgehoben werden, mit denen sich die Wikingerzeit in das Buch der Weltgeschichte eingeschrieben hat.

1. Noch vor den Erfindungen der Zeitenwende –
revolutionäre Technologien im Schiffsbau

Vom Klima nicht gerade verwöhnt und im Angesicht der gewaltigen Meere, die sie umgaben, wussten sich die Nordmänner beizeiten mit den natürlichen Gegebenheiten zu arrangieren. Sie verstanden es, offenbar schon zur Bronzezeit, Boote und Schiffe zu bauen und diese Fertigkeit so zu optimieren, dass sie (nicht nur) den Atlantik als globales Operationsgebiet nutzen konnten.

steuerbord

Bei einem Drachenboot war das Steuerruder rechts angebracht; so heißt noch heute diese Seite "steuerbord".

Aber erst ein technologischer Sprung ermöglichte die Weiterentwicklung friedlicher Transportmittel zu den weltweit gefürchteten "Drachenbooten". Außerordentlich kundig ging man schon bei der Auswahl des Rohstoffes in den nordischen Wäldern vor und weiter bei der Rohbearbeitung des Holzes mit damals modernster Spalttechnik. So entstanden Schiffsplanken, die - ebenso hart wie flexibel - den Herausforderungen der Meere standhalten konnten. In "Klinkerbauweise" überlappten sich die Planken und wurden eben dort mit Nieten aufeinander fixiert.

Auch die großen Wollsegel und das Tauwerk müssen Geschwindigkeit und Wendigkeit ihrer Schiffe wesentlich gefördert haben. Und die Wikinger verstanden es, mit dem regelmäßigen Schlag ihrer Ruder und durch Beobachtung vorbei treibender Gegenstände im Wasser Zeit und Entfernung zu messen und damit Segelrouten zu bestimmen, die an Genauigkeit nicht viel zu wünschen übrig ließen.

So verwundert es nicht, dass neben Fischfang und Handel die Kriegskunst ausgefeilt wurde. Besser gesagt: die Kunst des Überraschungsangriffs, der blitzschnellen Beutezüge und Plünderungen, die Angst und Schrecken in Europa verbreiteten. Besonders bemerkenswert ist es dabei, dass in unseren Landen die eine Gruppe Wikinger gerade friedlich ihrem Handel mit der einheimischen Bevölkerung nachging, während zugleich ein paar Orte weiter eine andere Gruppe die Menschen überfiel, ausraubte und tötete.

Eine weitere technologische Höchstleistung kam den Wikingern dabei zugute: sie waren in der Lage, die Masten ihrer Schiffe in nicht einmal zwei Minuten umzulegen. Brücken und andere Barrieren wurden damit mühelos unterlaufen, die Ruderer übernahmen den Antrieb. Es wird berichtet, dass Paris 845 vor der Plünderung stand, noch ehe Boten die über den Fluss nahende Gefahr hatten melden können. (Gegen ein Vermögen von 7.000 Pfund Silber kaufte sich die Stadt frei.)

2. Noch keine Hanse,
aber das erste weltweite Handelsimperium

Die friedliche Nutzung modernster Schiffsbautechnik ermöglichte es den Wikingern schon vor der ersten Jahrtausendwende, ein die Welt umspannendes Handelsnetz aufzubauen. Sie erreichten mit ihren Aktivitäten nicht nur ganz Europa, sondern sie trieben Handel mit Russland ebenso wie mit der arabischen Welt, sie befuhren den gesamten Mittelmeerraum und hatten Kontakt mit den kulturellen Zentren ihrer Zeit. Und schließlich drangen sie auch weit nach Westen über den Atlantik vor.

Sklavenhandel

Sklavenjagd und Handel mit Menschen war kein Monopol der Sarazenen (von denen dies hinlänglich bekannt ist). Auch fränkische Händler waren in den slawischen Ländern auf Beute aus. Prag, Magdeburg und Regensburg galten als beliebte Umschlagplätze. Über Verdun verlief der etablierte Sklavenexport nach Spanien, Venedig versorgte das Morgenland.

Ihr Handel beschränkte sich nicht auf den Import elaborierter Produkte des Südens und Ostens bzw. auf den Export eigener Güter (wie Bernstein). Vielmehr brachten sie sich auch gewaltsam in den Besitz wertvoller Pelze des Nordens, die man in südlichen Regionen wintertags zu schätzen wusste. Und dazu muss es einen lukrativen Sklavenhandel gegeben haben. Trotz interner Streitigkeiten entstand offenbar ein Netzwerk Gleichgesinnter, die so das erste globale Handelsimperium der Geschichte errichteten.

3. Noch vor der Stadtentwicklung des Hochmittelalters:
die erste mittelalterliche Stadt des Nordens

Städte gab es im heutigen Deutschland schon seit der (und durch die) Römerzeit. Aber das waren die alten Bischofsstädte, insbesondere an der Rheinschiene entlang: von Basel bis Köln. Erst im Mittelalter, genauer im 10.Jh., setzte die eigentliche frühe Stadtentwicklung ein, die zunächst nur auf einer - teils extremen - Bevölkerungsverdichtung beruhte. Von Infrastruktur war da keine Spur, römische Stadt- und Wohnkultur schien mit dem Imperium Romanum untergegangen zu sein. Allein die ökonomischen Bedingungen machten Bevölkerungsmassierungen erforderlich, denn kein herkömmlicher Warenhandel ist ohne zentrale Warenplätze vorstellbar. Und so entstand auch - weitab von den Metropolen der Welt wie Bagdad, Konstantinopel, Córdoba oder Rom - ein Handelszentrum der Wikinger nahe der Ostsee: Das inzwischen fast vergessene Haithabu stand im Warenverkehr mit der Welt, nicht zuletzt über die erwähnte nördliche Fernhandelsroute.

Stadt im Mittelalter

Die heutige Großstadt Essen zum Beispiel avancierte erst im 11.Jh. zum "Marktplatz" mit kaum mehr als 400 Einwohnern.

Die erste mittelalterliche Stadt des Nordens muss - in für uns qualvoller Enge – Platz für 1.500 Einwohner geboten haben. Das war für damalige Verhältnisse außerordentlich viel. Hier wurden Bauern zu Handwerkern und Händlern. Hier arbeitete eine "multikulturelle Gesellschaft" aus ganz Europa. Hier wurden Waren auf 40 Meter langen Verkaufstheken angeboten. Hier kauften Araber aber auch gerne blonde Frauen und Kinder ein.

4. Noch weit vor Columbus: die Entdeckung Amerikas

Skandinavier, die an ihren Küsten in See stachen, waren nicht nur als Räuber oder Händler unterwegs. Viele von ihnen verhielten sich primär als Entdecker und Siedler. Und wie schon oben betont, lagen unterschiedliche Temperamente, Motive und Verhaltensweisen dicht beieinander. Eine nachhaltige Besiedlung durch Wikinger gab es vor allem an der Mündung der Seine um Rouen, woraus sich das eigenständige und bedeutsame Herzogtum Normandie entwickelte (vgl.o.). In Süditalien machten sich die dort ansässigen Nordmänner im Spiel der klassischen Kräfte unentbehrlich: zwischen den Arabern, Byzanz und dem Reich. Aus dem Normannenstaat von Palermo entstand im Hochmittelalter das Königreich Sizilien. Schon um 800, als Karl der Große zum Kaiser gekrönt wurde, besiedelten norwegische Nordmänner die Färöer. Dann wurde Island entdeckt und ab 870 besiedelt. (Hier waren irische Mönche schon ein Jahrhundert früher gestrandet und hatten alsbald Entdeckerlust geweckt.) Von diesem Stützpunkt aus ging es 100 Jahre später nach Grönland, das Erik der Rote 982 entdeckt hatte.

Die alte Gesellschaftsordnung wurde in dieser neuen Welt auf die Probe gestellt. So gelangten arme Neusiedler hier zu Geld und Ansehen. Gleichwohl holten die Christianisierung und die Lebensweisen der alten Welt die Menschen auch hier in der Ferne ein.

Anno 975, noch in Island, wurde Leif Eriksson als Eriks Sohn geboren und kam mit seinem Vater nach Grönland. Als er Mitte Zwanzig war, startete er nach heutiger Kenntnis mit einer kleinen Mannschaft weiter nach Westen. So betraten diese Wikinger bereits nordamerikanischen Boden – wohl als die ersten Europäer. Die Quellenlage ist offenbar nicht eindeutig, und neuere (archäologische) Funde mögen auch in Zukunft für weitere Korrekturen sorgen. So wird weiterhin diskutiert, ob das sagenhafte Vinland des Leif im heutigen Kanada (Neufundland) oder im Nordostzipfel der USA (Neuengland) lag. Auch die Übersetzung mit "Weinland" gilt als umstritten.

Jedenfalls reichte schon 500 Jahre vor Columbus das "Wikinger-Imperium" bis nach Nordamerika. Um das Jahr 1000 kreuzten die Schiffe über Labrador und Neufundland mutmaßlich bis zum heutigen New York. Aber eine Besiedelung scheiterte an diesen Küsten wohl am Widerstand der Ureinwohner (Eskimos, Indianer). Die skandinavischen Siedlungen in Grönland hielten sich bis in das späte Mittelalter hinein.

Vieles bleibt noch im Dunkel der Geschichte verborgen. Und wenn von einem "Imperium" die Rede ist, meint das eher die imposante Ausbreitung einer Machtsphäre (insbesondere auf dem Wasser) als die durchorganisierte und wirksam kontrollierte Allgegenwart staatlicher Macht.

 

------------------------------------------

Bevorzugte Literatur und Quellen

Bosl, Karl: Europa im Aufbruch:19ff.
Herrschaft, Gesellschaft, Kultur vom 10. bis zum 14. Jahrhundert, München: Beck 1980.
Bühler, Arnold u.a.: Das Mittelalter, insbes. p.121ff.
Kienitz, Friedrich-Karl: Das Mittelmeer:177ff.
Schauplatz der Weltgeschichte von den frühen Hochkulturen bis ins 20. Jahrhundert. M. 24 Abbildgn. auf Taf. München, Beck, 1976.
Willemsen, Annemarieke: Wikinger am Rhein (Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn) 2004.

Die vorgenannte Ausstellung sowie TV-Dokus aus der ZDF-Sendereihe (*)
"Sagenhafte Völker": Das Wikingerkartell sowie "Die Wikinger - Die Entdecker Amerikas" lieferten anschauliche und anregende Zusatzinformationen.

(*) vgl.u.: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/12/0,1872,2129932,00.html und: http://terra-x.zdf.de/ZDFde/inhalt/19/0,1872,2129907,00.html

E-Mail:  drd@dringenberg-history.de Copyright © 2004, Rainer Dringenberg.